Alltageskultur - Kurze Geschichten - Menschen - Nachgedacht

Friedhelm Müllers Heimat

Friedhelm Müllers Heimat

Jeden Morgen wacht Friedhelm Müller zur gleichen Uhrzeit auf und stellt den Wecker aus, den er eigentlich nicht braucht. Weil er eine innere Uhr hat, die genauso verlässlich ist wie sein Wecker, den er trotzdem täglich wieder stellt. In dem Moment dreht sich seine Frau jeden Morgen auf die andere Seite und sagt dabei im Halbschlaf: “Sei leise, wenn Du aufstehst. Ich schlaf noch eine Runde“.   Dann geht Friedhelm Müller ins Bad und macht jeden Morgen die gleichen Handbewegungen, putzt die Zähne, rasiert sich und duscht in immer derselben Haltung, mit immer dem gleichwarmen Wasser. Schaut sich Tag für Tag von der Seite im Spiegel an und denkt seit Jahren dabei: “Du wirst auch nicht grade jünger“.

Auch in der Küche wiederholt sich immer wieder dasselbe Ritual: er drückt auf den Knopf der Kaffeemaschine, frühstückt auf dem Teller, den er sich schon Abends zurecht gestellt hat und denkt darüber nach, welche Aufgaben er heute im Büro hat. Nur die Zeitung, die er überfliegt, hat jeden Morgen eine andere Headline. Sie ist die einzige Neuerung in dem sonst so gleichförmig laufenden Muster, das in seiner Grundstruktur den ganzen Tag von Friedhelm Müller durchzieht und bestimmt.

Im Bus trifft er jeden Tag dieselben Leute, die er noch nie angesprochen hat, wundert sich über jedes neue Gesicht, wundert sich, wenn die Frau, die täglich vor ihm sitzt, einen neuen Mantel hat. So werden seit Jahren wildfremde Menschen stumme Teilnehmer seines täglichen Rituals, das nur er alleine kennt. Das er bisher mit keinem geteilt hat. Und eigentlich auch nicht will. Trotzdem sind es heimliche Freundinnen und Freunde, deren Stimmungen er kennt, ohne mit ihnen zu sprechen. Er kennt ihren Gang, ihren Geruch, ihre Kleidung.

In diesen, immer sich gleich wiederholenden Schienen, begibt sich Friedhelm Müller durch den Tag und fühlt sich sicher und aufgehoben dabei. Sie sind seine heimlichen Verbündeten in einem komplexen, oft unübersehbaren, manchmal beängstigenden Alltagsleben.

Auch im Büro laufen die immer wiederkehrenden Muster ab: “Guten Morgen“, “Guten Morgen“. „Wie geht’s?“, „Und selbst?“ Auch wenn die Inhalte unwichtig sind, die kurze Kommunikation ist ein guter Start in den Tag und gibt ihm das Gefühl: Du bist nicht allein. Neben dir laufen auch andere in ihren Schienen, auf ihren Bahnen durch den Tag, das Jahr, die Zeit bis zum Ende.

Friedhelm Müller arbeitet im Finanzamt und hat seit nunmehr 20 Jahren die Aufgabe, die Steuererklärungen zu prüfen. Inzwischen kennt er alle Tricks der Erklärungen und hat eine heimliche Freude daran, wenn er wieder einmal den Versuch einer Hinterziehung entdeckt hat.

Er hat in der Zeit ganz feste Abläufe entwickelt, wie er an die einzelne Steuererklärung herangeht, wo er sie hinlegt, wenn noch Fragen sind, wo er sie hinlegt, wenn sie fertig ist. Das Büro von Herrn Müller ist penibel aufgebaut und aufgeräumt, weil er nur so den täglichen Anforderungen gerecht werden kann. Suchen ist ihm eines der größten Gräuel. Auch hier geben ihm die alphabetisch sortierten Akten die Sicherheit, alles richtig zu machen. Schließlich hat er eine Verantwortung dem Steuerzahler gegenüber. Und sich selbst. Die wachsende Digitalisierung macht ihm Angst. Es fällt ihm schwer, seine Arbeitsroutinen in das Unsichtbare digitaler Ordner zu übertragen. Ihm ist der Stift, eine im in den Jahren lieb gewonnene Art Verlängerung seiner Finger, lieber, als die ausgelagerten Buchstaben in eine Tastatur.

Mittags geht Friedhelm Müller in der Kantine essen, und hofft, dass es eines seiner Lieblingsessen gibt, an die er sich seit Jahren gewöhnt hat. Zum Glück ist die Kanine im Finanzamt selbst. So muss er nicht über die Straße in ein anderes Gebäude. Schließlich ist das Wetter nicht vorhersehbar. Auch nicht der Verkehr.

Friedhelm Müller freut sich darüber, dass er ein Leben in solch festen Bahnen hat. Die Riten stärken seinen Selbstwert und geben ihm ein Gefühl des Glücks. Ohne solche Riten wäre er sicher nicht da, wo er heute ist. In festen Händen, fest im Büro und mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Fest im Leben verankert.

Sicher hat es auch Unwägbarkeiten gegeben, Unvorhersehbares. Sicher hat er sich über seine Frau ein, zweimal geärgert, wenn sie die halbvolle Sprudelflasche nicht wieder zugedreht hat oder abends immer dieselben Schnulzen im Fernsehen anschaut. Sicher hat er ganz persönliche Sehnsüchte gehabt, Träume, doch selbst dies und seine Suche nach Sinn ist ihm schon zu einer solchen Routine übergegangen, dass er sie kaum noch wahrnimmt. Friedhelm Müller hat es immer wieder geschafft, sein Leben und das Leben mit seiner Frau auf die richtige Bahn zu bringen. Darauf ist er stolz.

Ja, solche Routinen sind ein Stück Heimat, denkt Friedhelm Müller, als er am Nachmittag seine Sachen zusammenpackt und überprüft, ob der Computer ausgeschaltet ist. In dem Moment hat er den Drang, seiner Frau dieses Gefühl von Heimat, ja Glück und Liebe zu zeigen und mit nach Hause zu nehmen. Völlig entgegen seiner Gewohnheit geht er in einen Blumenladen, um ihr einen schönen Strauß zu kaufen, den er ihr als Zeichen seiner jahrelangen und Sicherheit gebenden Zuneigung schenken wird. Er kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen mit diesem Spannungsgefühl von Sicherheit und Blumenüberraschung. In dem Moment nimmt er sogar die Tagesfreundinnen und Freunde in der Bahn kaum wahr.

Als er die Türe aufschließt, ruft er wie jeden Tag: “Schaatz!“ Doch seine Frau antwortet nicht. Sie ist nicht da. Vielleicht einkaufen, denkt Friedhelm Müller und zieht sich wie jeden Tag den Mantel aus, hängt ihn sorgsam auf einem Bügel an die Garderobe und holt sich die Pantoffel.

In der Küche liegt ein Zettel auf dem Tisch und Friedhelm Müller traut seinen Augen nicht. Seine Frau hat ihm etwas aufgeschrieben. Das hat sie noch nie getan. Das ist völlig entgegen ihrer Gewohnheit. Mit zitternder Hand nimmt Friedhelm Müller den Zettel und liest:
„Hallo Friedhelm. Ich habe Dich verlassen. Zuviel ist zwischen uns zur Gewohnheit, zur Routine geworden. Viele diese immer wiederkehrenden Muster langweilen mich. Ich habe nur das eine Leben und möchte es mit immer neuen, bunten Erlebnissen ausfüllen. Sei nicht böse. Wie ich dich kenne, kommst Du auch alleine zurecht. Deine Routinen werden Dich halten. Und schützen. Sie sind Dein Glück und Heimat bis zum Ende“

Friedhelm Müller wird blass, stellt die Blumen vorsichtig in eine Vase, setzt sich an seinen Platz am Küchentisch und fühlt sich aus der Bahn geworfen. Er hat Sorge, dass er morgen früh nicht rechtzeitig aufwacht und den Wecker nicht hört. Auf dem Tisch steht eine halbvolle Sprudelflasche. Sie ist fest zugeschraubt. 

C Text/Bild/Foto Der KuRat/Troesser