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Nur nicht aus der Ruhe bringen lassen. Die Kuh

 

In meiner Kindheit und sogar noch Jugend fuhr ich mit meiner Familie (immerhin vier Geschwister) Jahr um Jahr (manchmal auch zweimal pro Jahr) ins tiefe Oberbayern oder sollte man eher sagen, das höchste Oberbayern. Denn da endete die Straße und wurde plötzlich zum Weg, rauf auf die Almen, rauf zum Gipfelkreuz. Gefühlt also das Ende der Welt. Während sich der größte Teil der Familie für die heilige Maria des Wallfahrtortes oder den nächsten, stolzen Aufstieg zum Gipfelkreuz interessierten, schloss ich eine heimliche Freundschaft mit der Kuh. Oder den Kühen.

Riesig standen sie auf den Auen hinter den Zäunen oder den abschüssigen Wiesen neben der Alm. Wenn man sich ihnen näherte, schauten sie einen mit ihren treuen, großen Augen an und mit ihrem oft gekräuselten Haarschopf sahen sie aus wie eine Insel des Friedens und der Gelassenheit.

Sie waren nicht so unberechenbar wie Katzen, wie die oft aggressiven Hunde oder der böse Fuchs. Sie waren eben die Kuh, die nur manchmal ihren Kopf hob und ein so kräftiges, lang anhaltendes „Muuuuhhhh“ von sich gab. Manchmal dachte ich, diese weit hörbaren  Stimmfühlungslaute  wären nur mir, dem Freund gewidmet.

Dann die mächtigen Glocken an den breiten Lederbändern um den Hals. Ein wunderschönes Glockenspiel, wenn sie die steilen Bergwege hinuntergetrieben wurden. Treiben ist eher übertrieben. Gemächlich, fast widerwillig ließen sie sich auf den Heimweg ein unter dem Motto: Nur nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wenn sie dann wieder auf der Weide lagen, diese braunweißen oder schwarzweißen Mammutgestalten,  strahlten sie einen Frieden aus, neben die man sich gerne gelegt hätte,  aber dafür war der Respekt  – und wahrscheinlich auch die Angst –  natürlich zu groß.

Und dann das Wiederkäuen! Auch wenn sie kein Gras gefressen hatten, kauten und kauten und kauten sie langsam und bedächtig vor sich hin. Als Kind hätte ich mir auch gewünscht, wiederkauen zu können. Dann hätte ich nicht immer wieder essen müssen, weil man sich bei Hunger immer das letzte Gericht hätte zurückholen könnte. Immer und immer wieder.

 Ja das Wiederkäuen. Davon spricht auch Nietzsche in „Also sprach Zarathustra“:

 „Denn als Zarathustra den hässlichsten Menschen verlassen hatte, fror ihn“. Aber plötzlich erquickte ihn etwas „Warmes und Lebendiges“ in seiner Nähe: „Schon bin ich weniger allein; Unbewusste Gefährten und Brüder schweifen um mich, ihr warmer Athem rührt an meine Seele. Siehe, da waren es Kühe, welche auf einer Anhöhe beieinander standen“

Deren Nähe und Geruch hatten sein Herz erwärmt: “Dazu aber möchte ich von diesen Kühen lernen. So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich. Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen: das Wiederkäuen. Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen: was hülfe es! Er würde nicht seine Trübsal los.“

Sicher meinte Nietzsche nicht das reale Wiederkäuen auf der Weide, sondern eher das geistige, seelische „immer wieder“.  Eigenartigerweise heißt der Wiederkäuer im Lateinischen „Ruminatia“, das Verb hierzu nicht nur wiederkäuen, sondern „intensiv über eine Sache nachdenken“.

Der Literaturwissenschaftler Florian Werner, der zahlreiche Fachbücher herausgegeben hat, schreibt hierzu: “Ein Vorgang, bei dem ein Gedächtnisinhalt aus dem Magen der Erinnerung ins Bewusstsein befördert und dort neuerlich durchgearbeitet wird“.

Bis zu neun Stunden am Tag mit ca. 30 000 Kaubewegungen verbringen Kühe mit diesem Wiederkäuen und strahlen vielleicht deshalb eine solche Wärme und Zufriedenheit aus: “Wenn wir so lässig werden wollen wie die Kühe, sollten wir mit gärenden Erinnerungen und offenen Fragen also so umgehen, wie sie es mit ihrem Futter tun. Wenn uns etwas im Magen liegt, sollten wir es in Ruhe lassen und erst zu gegebener Zeit aus der „sanften und fernen Erinnerung „(Schiller) wieder hervorholen.“ rät Werner, der sich keine neuen Erfahrungen holen möchte, solange die alten noch nicht verdaut sind, also eine Art gedanklicher Pansen als Vorratsspeicher der Erinnerung.“Die Kühe haben die Wiederkehr des Immergreichen als Grundbedingung des Daseins akzeptiert.“

Daran ist sicher etwas Wahres – zumal in einer Gesellschaft und Welt der Beschleunigung. Sicher  auch gut für so manchen Entschleunigungsratgeber. Nicht zuletzt gibt es deswegen auch heute schon tiefe Muuhhs der Kühe als Labsal für gestresste Zeitgenossen im Internet zum downladen.  

http://www.hoerspielbox.de/nahes-kraeftiges-muh/

https://www.gemafreie-welten.de/s_Kuh.html

An der „Wiederkehr des Immergleichen als Grundbedingung des Daseins“  zweifle ich allerdings mächtig.

Ein wenig Wiederkehr ist sicher sinnvoll, aber was wäre die Welt, wenn es nicht neben der Almwiese auch neue Ufer geben würde, was wäre die Wissenschaft, was die Wirtschaft ohne Innovation, was die Kunst ohne die Fantasie als Ausbruch aus dem Wiederkäuen. Würde es sonst die lila Kuh geben, bei der sich die Molke in Milka wandelt? Daher will ich  nicht  „werden wie die Kühe“, sondern vielmehr wie die lila Kuh, die erst durch Kreativiät von der Weide geholt werden konnte. Und alle Farben annehmen kann. Am sinnvollsten wäre die schöne, friedliche Kuh mit einem gelassenen und einem quirligen Pansen. Aber so weit konnte ich natürlich noch nicht denken, als ich damals meine Kuh-Freundschaft schloss.

  C Bild (Milka/Molke 2011/30x40cm) und Text Michael Troesser 

Florian Werner zitiert aus : „Philosophie Magazin“ August 2015