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Phil.Cologne

Zwischen Misere und Utopie

 

Wenn man zu einer philosophischen oder politischen, mehr noch zu einer politisch-philosophischen Veranstaltung geht, rechnet man mit einer Auseinandersetzung auf höchstem intellektuellem Niveau un möchte seine Lachmuskeln am liebsten zu Hause lassen. Anders bei der Eröffnungsveranstaltung zum Thema: “Wo stehen wir? Europa in der Krise“, vor allem der klugen Besetzung der Gäste durch den Moderator Jürgen Wiebicke vom WDR, Mitorganisator der phil.cologne, geschuldet:    Der große französisch-deutsche Soziologe, Publizist und Friedenspreisträger Alfred Grosser, der alt68er Politiker Daniel Cohn-Bendit, lange bei den Grünen, sowie die Philosophin und Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz lieferten einen erstaunlich lockeren und frischen Abend, ohne dass dadurch das äußerst ernste und aktuelle Thema litt. Dies begann schon damit, dass Wiebicke verschmitzt lächelnd versprach, dass es in keinem Satz um die 68er gehen sollte.

 

Und so ging es um eine Analyse und Selbstreflektion eines durch „Psychopaten“ wie Trump, Terroranschläge, Ökonische komplexe und gefährliche Verflechtungen oder neue Diktaturen arg gebeutelten Europa in der Krise, die uns durch die Horrornachrichten morgens im Radio schmerzlich nah vor die eigene Türe kommt. Aber überraschenderweise vertrat Alfred Grosser, immerhin 92 Jahre und noch mit einem wachen und klugen Geist, der aus langer Erfahrung als Europäer sprechen kann, von Beginn an eine optimistische Haltung, die den gesamten Abend prägte unter dem Motto: Europa, Deutschland und die Partner haben in den letzten 70 Jahren so viele Krisen gemeistert, haben alleine oder im Verbund so tiefe Täler durchschritten und auch aus dieser dramatische Misere werden wir wieder gemeinsam herauskommen. Und sicher weiß der 92igjährige Europäer wovon er spricht.Aber wie in einem Europa, das einerseits durch sich selbst auseinander zu brechen droht, andererseits z.B. durch einen ehemaligen Partner, Verbündeten und Freund Amerika, um nur einen zu nennen, auch von außen bedroht ist.Einer der wichtigsten Ansätze, diesen Knoten zu lösen, war an dem Abend die Rückbesinnung auf das, war haben und was wir sind in Europa: Wir haben die besten Demokratien in der Welt, sind eine der großen Wirtschaftsmärkte, sind (gemeinsam) eine der starken Militärmächte, haben auch moralische Visionäre wie Gauk oder Steinmeier. Warum setzten wir nicht alles auf diese Karte, um im Verbund den Bedrohungen von allen Seiten entgegenzutreten. Oder wie es Cohn-Bendit in seiner direkten und bildhaften Diktion sinngemäß formulierte: “Hört endlich das Jammern auf, das europäische Glas ist zu 80 Prozent voll! Vergesst endlich den so typisch deutschen Satz – das kriegen wir sowieso nicht hin – und baut einen gesamteuropäischen Weg, der auch von Brüssel auch zentral gesteuert werden muss. Hört das nationalstaatliche denken auf und verlasst euch nicht auf Parteien, die sich selbst im Weg stehen. Und ich weiß wovon ich spreche, denn bei den Grünen sind sich auch nicht alle grün“.(Gelächter)Er fordert eine schlagfähige gesamt europäische Armee und keine national zerfaserten Einzelkämpfer, die sofort nach Amerika rufen, wenn ihnen die Munition ausgeht. (Gelächter) Seine großen Hoffnungsträger sind die neuen Jungen (Nicht mehr die jungen Wilden) wie Emmanuel Marcon gegen die Alten (Tränensäcke), die viel zu lange im Amt sind und eher bremsen als angstfrei und nachhaltig Zukunft bauen. All dies emphatisch und charismatisch vorgetragen von einem der führenden Architekten der 68er Politik. Einen Moment lang wundert man sich und assoziiert den Satz:“Wir schaffen das!“. Merkel und Cohn-Bendit, geht das?Wenn man allerdings genauer hinsieht fällt einem sofort wieder eine der Parolen von damals ein: “Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“. So erkennen wir ihn dann wieder, unseren alten Cohn-Bendit.

Und es schwingt schon ein wenig Stolz mit, wenn er sinngemäß formuliert: “Wenn ich am 4.April 1945 , als ich in Frankreich auf die Welt kam, als erstes meinen Eltern gesagt hätte, in 50 Jahren wird es keine Grenze mehr zwischen Frankreich und Deutschland geben, hätte sie mich wohl ungläubig angesehen und als Frühchen in den Mutterleib zurück geschickt“.(Gelächter) Das nennt man Utopie, Vision und Realität. Alfred Grosser, eben einer der wichtigen Architekten dieser deutsch-französischen Freundschaft, dessen neuestes Buch den wunderbaren und treffenden Titel trägt: “Le Mensch“, formuliert es moderater, weiser als der unterhaltsame Kämpfer „Danni“ Cohn-Bendit. Grosser fragt sich auch, wie die Welt in 100 Jahren aussehen wird, wie Europa, und seine größte Forderung ist, nicht mit dem Finger auf seine Feinde zu zeigen und sie als Gegner zu sehen, sondern sich in ihre Lage zu versetzen, wie jene sich in unsere. Nur so gelingt ein gemeinsamer Weg für Europa, will es in diesen 100 Jahren überhaupt noch eine Rolle spielen.Wie all dies konkret gelingen kann, bot als Dritte im Bund Patrizia Nanz an, Professorin für transformative Nachhaltigkeitswissenschaft an der Universität Potsdam . Sie erforscht die Gelingensbedingungen gesellschaftlichen Wandels und experimentiert mit ko-kreativen Denk- und Gestaltungsprozessen. Sie vertritt den Ansatz einer Partizipation, Beteiligung von wenigen, zufällig ausgewählten Bürgern, die Lösungsvorschläge zu Zukunftsfragen erarbeiten. Die Gremien sind konsultativ, erfordern aber ein verbindliches Feedback eines Gemeinderats, Landtags oder Bundestags. Eine Diskussion einer solcher konkreten, zukunftweisenden, innovativen Theorie  fand leider nicht statt und wurde mit dem lapidaren Satz: “Was ist, wenn zufällig 20 AFDler bei den Ausgelosten sind?“ abgewiegelt. Natürlich hatte die Professorin es etwas schwer neben den beiden prominenten alten Hasen. Obwohl gerade sie ein gutes Beispiel für die Generation der „neuen Jungen“ hätte sein können.So war der Abend geprägt von der Ambivalenz zwischen der positiven Utopie einer gemeinsamen europäischen Zukunft und der Sorge darum, dass Europa im Verbund der gesamten Welt (China, USA, Rusland, Saudi Arabien…) irgendwann nur noch eine Rolle spielen wird wie Malta oder Andorra heute in Europa.Zum Schluss der Veranstaltung war man beseelt von so viel Optimismus und visionärer Einigkeit. Aber schon auf der Domplatte musste man unwillkürlich an die Silvesternacht denken und auf dem Heimweg erneut an die Sorge, bei den nächsten Radionachrichten von neuen Terroranschlägen zu hören.Doch ohne kluge Visionäre wie Grosser, politische Kämpfer wie Cohn-Bendit oder Wissenschatlerinnen wie Nanz müsste Cohn-Bendit (und die anderen Mitstreiter) tatsächlich wieder als Frühchen in den Mutterleib der Vergangenheit zurück. Denn dann ständen wir nicht da, wo wir heute stehen und hätten keine Chance zur Erneuerung eines geeinten Europa.

 C Text und Bilder Troesser