Bücher - Nachgedacht

Die Autobiografie der Zeit

 

Eine 15jähriges Mädchen, die Icherzählerin, wird dazu ausersehen, die Zeit zu werden. Daher kommt der Tod, beruhigt sie („Sterben ist wie Achterbahnfahren. Das Anstehen davor ist das Beschissene“) trennt sie von den Eltern, macht sie unsichtbar und nimmt sie mit zu den anderen Mächten, nämlich Kevin, der Raum (der an Fußball glaubt), David, die Beständigkeit (die an die Liebe glaubt) und Shy, der Abgrund (der an das Blut glaubt). So wird sie schon mit 15 zur Ewigkeit, die als Zeit über all den anderen Mächten steht. Das Buch stellt die „Autobiographie“ eben dieser jungen Frau als Zeit dar.

In fast 100 kleinen Szenen, z.T. wie kurze Poeme, wie Aphorismen, manchmal auch nur ein Satz, entwickelt sich dann ein langer Weg der vier Mächte, immer aus der Perspektive der Zeit. Wie auf Planeten wandeln sie und mal wird der Raum, mal der Abgrund, mal die Beständigkeit beschrieben, die immer wieder  zueinander sprechen wie alte Freunde, sie sind sich fremd und doch nah, bedingen sich einander. Und sind natürlich die Leitmächte der Menschen auf der Erde, deren Einsamkeit, deren Räumlichkeit, deren Hass und Liebe, ja und deren Zeit in der Zeit, die in vielen kleinen Geschichten  erzählt wird. Zentrales Leitmotiv ist trotz allen Blutes und  getöteter Menschen immer wieder die Achtsamkeit den Dingen und letztendlich auch den vier Mächten gegenüber. Sehr schön auch die Erkenntnis : “Zärtlichkeit hat doppelt so viele Buchstaben wie Gewalt“.

So sagt zum Beispiel Kevin, der Raum zu David, der Beständigkeit:“Die Zeit ist hungrig, sie verschlingt gerne Menschen“. Zeit muss man nicht definieren. Zeit muss man atmen, meint die Zeit. Allerdings leidet die Zeit selbst an der Zeit und wünscht nichts mehr  als ihre eigene Endlichkeit. An einer anderen Stelle beginnt die Zeit einen kilometerlangen Schal zu stricken, den sie Kevin, dem Raum schenkt. Dieser verbindet mit dem Schal das Meer mit dem Himmel und die Erdachse mit dem Ozonloch. „Die Menschen nannten es Physik, wir nennen es Stille.“  Zwischendurch geht es auch um WLAN, Facebook, Fußball und immer wieder auch um Gott. So lernt die Zeit den Teufel kennen, mit dem sie einen Becher Eis teilt. Daraufhin teilt der Teufel ihr ein Geheimnis mit: “Gott weilt unter uns. In der Hölle“. Oder die schöne Formulierung: “Die Kirche pasteurisiert Menschen in dem Glauben, sie länger haltbar zu machen“.

Am Ende der drei großen Kapitel trifft die Zeit den Tod wieder, der sie damals ja in das Universum als Zeit geholt hatte. Beide sahen sehr einsam und alt aus, aber sie wurden schließlich Freunde und besuchten sich wann immer sie dazu Zeit hatten. Am Ende des Buches schließlich sterben alle vier Mächte, jede in einer anderen Jahreszeit und auf ihre Weise. Denn auch für die Zeit ist es nun Zeit zu gehen, ihr Traum, doch nicht unendlich zu sein, wird erfüllt. Sie stirbt an einem Wintermorgen ohne Drama, einfach so in der Abenddämmerung. Und in dem einen Satz des Prologes erfahren wir dann letztendlich, warum: “Denn es kam eine neue Zeit“.

Das gesamte Buch ist eine wunderbare Kombination aus Poesie und Prosa. Einer Geschichte, die einen immer wieder anhalten und nachlesen lässt, um die Tiefe und Vieldeutigkeit  zu begreifen oder ihnen nachzufühlen. Vielfach sind die Seiten ja nur wenig beschrieben und der gesamte Roman wird gekürt durch feine, farbige Aquarelle von Lisa Wöhling, die zu den jeweiligen Textstellen passen.

Der gesamte Aufbau, die Kombination aus lyrischen Text und wunderbaren grafischen Bildern, die tiefgründigen Beschreibungen, die übermenschlichen Mächten und eine hochsensiblen Leitfigur, erinnert einen immer wieder an denn Kleinen Prinzen von Saint Exuperie. Es kommt dieselbe Stimmung von großer Philosophie und den kleinen Dingen im Leben auf, von existentiellen Fragen  und kleinen, oft nur einen Satz oder ein Wort langen Antworten. Wer sich auf eine solche Form einlassen kann oder möchte, wird hier reich beschenkt.

P.S. Das ist das 3. Buch einer jungen Autorin, die einen schweren Lebensweg hinter sich hat und dies vor allem in ihrem ersten autobiographischen Roman: „Splitterfasernackt“  erschütternd beschreibt. Das Buch wird ebenfalls in dem K24Blog vorgestellt werden.

Lilly Lindner 221 Seiten /Aquarelle zu den Szenen von Lisa Wöhling

Droemer Verlag, 14,99 €

C Besprechungstext Der KuRat/Troesser