Kurze Geschichten

Die krumme Liese und der schiefe Hans

Die krumme Liese und der schiefe Hans

Es war einmal eine junge Frau, die machte gerade den Baum. Sie war ein wenig vom Leben und einer vergangen Liebe gezeichnet, aber immer noch von unbeugsamer Schönheit. Um wieder zu inneren Kraft und Gelassenheit zu gelangen, schloss sie sich der Yogagruppe des Dorfes an.

Als sie mit gespanntem Rücken im Gleichgewicht stand, das eine Bein am Oberschenkel des anderen, die Hände zum Himmel, fühlte sie sich wohl und kerzengerade. Doch schon kam die alte Yogalehrerin zu ihr und mahnte mit strenger Stimme: „Stell dich beim Baum gerade hin. Mit einem so krummen Rücken wirst Du nie zu innerem Gleichgewicht, neuer Liebe und Leben kommen!“ Doch die junge Frau fühlte sich gerade und spürte eine wohlige wärme in sich. Nie werde ich mich verbiegen lassen, auch wenn ich für andere noch so krumm bin, dachte sie und bei keiner Übung wich sie von diesem Vorsatz ab. Seither wurde sie in der Gruppe nur die „Krumme Liese“ gerufen.
Es vergingen Wochen, bis schließlich ein einsamer junger Mann aus dem nächsten Dorf zu der Gruppe stieß und beim „Schmetterling“, bei dem man mit geradem Rücken und verschränkten Beinen am Boden sitzt, kam wieder die alte Lehrerin und rief: “Junger Mann, deine ganze Haltung ist zu schief! So wirst du nie deine Einsamkeit überwinden.“

Doch auch der junge Mann wollte sich nicht verbiegen lassen und fühlte sich bei allem gerade, doch für die Anderen schief. Seither wurde er nur der „Schiefe Hans“ gerufen.
So begab es sich, dass nach weiteren Wochen die Partnerübungen an der Reihe waren und alle sich einen Menschen im Raum suchten, um mit ihm die schweren Aufgaben zu versuchen.
Alle zogen und reckten sich, doch die Rücken waren so kerzengerade, dass es nur so knackte und knirschte. Nur der „schiefe Hans“ und die „Krumme Liese“, die hier zueinander gefunden hatten, merkten, wie der krumme Rücken der einen sich geschmeidig in den schiefen Rücken des anderen legte und der Makel des einen zum Glück des anderen wurde. Seither wurden beide von der Lehrerin neidisch beäugt und der Gruppe bewundert. Bei der Partnerübung „Das Boot“ schließlich, bei der man sich bei beiden Händen fassen und die nackten Füße gegen die des Partners drücken muss, passierte es. Sie verliebten sich ineinander, konnten seither nicht mehr voneinander lassen und machten nun alle Übungen gemeinsam bis an ihr Lebensende.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann üben sie noch heute.